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Plus ça change - eine Shadowrun Kurzgeschichte

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Schattenlauf (Nomen): Jede Bewegung, Handlung oder Folge derselben, die Ausführung von Plänen illegalen oder quasilegalen Chrakters dient.
- WorldWide WordWatch, Stand von 2050

Manche Dinge verändern sich, andere nicht. Nimm zum Beispiel den Asphaltdschungel. Von außen betrachtet macht Seattle vielleicht den Eindruck, es würde sich ständig verändern. Fall bloß nicht drauf rein, Chummer! Unter dem ganzen Glitter und Staub bleibt die Stadt immer dieselbe.

Der Asphaltdschungel ist wie ein Lebewesen, ein hungriges dazu. Egal, wieviel Nahrung und Brennstoff per Hafen oder Highway, wieviel Daten über die Matrix reinkommen, Seattle schluckt einfach alles runter, öffnet dann wieder den gierigen Schlund und schreit nach mehr.

Auch Menschen werden verschlungen. Vielleicht nicht diejenigen, die per Flugzeug oder Zeppelin ankommen, die sich mit Nuyen den Ofen heizen können und die richtigen Connections haben, um in Sicherheit zu sein. Nein, ich rede von den anderen. Straßenfleisch ist immer ein heißes Produkt in einer Stadt mit so vielen Jägern. Wie in der King Street Station, wo sich die alte Stadt und das neue Blut vermischen.

Im Schatten der Renraku-Arcologie bringen Züge und Linienbusse die Neulinge in den Asphaltdschungel, Menschen, die ihren Träumen nachjagen oder vor ihren Alpträumen flüchten, Menschen auf der Suche nach dem Leben in der Stadt am Puget Sound, von dem sie schon so viel gehört haben. Da sind Hinterwäldler aus den Indianergebieten, Flüchtlinge aus den UCAS oder dem Freistaat Kalifornien, sogar Elfen, die gegen das Leben in Tir Tairngire rebellieren, das so sehr dem Programm auf einem Fantasy-Chip ähnelt. Sie alle halten Seattle für die Stadt, wo die Magie an jeder Ecke präsent ist und die Leute in den Schatten tanzen.

Und ‘ne Menge von ihnen findet schnell heraus, dass noch andere Wesen in den Schatten leben.

An jenem Tag schaute ich mir gerade die Menschenmenge an der King Street Station an, um ein bestimmtes Gesicht zu entdecken. Ein hübsches Gesicht mit einem bockigen Zug, der mir irgendwie gefiel. Ich hatte ein Holo in meinem Taschencomputer, der dem Ganzen einen Namen gab: Sheila Winder, Flüchtling aus einer Konzem-Enklave in San Francisco, Tochter eines Managerpaares zwischen der mittleren und der oberen Ebene. Schien so, als hätte sie Mom und Dad erklärt, wo sie sich ihren Kon-Lebensstil hinstecken sollten, und wäre dann aus Schlips-City verschwunden. Als die Konbullen ihre Chummers verhörten, bekamen sie zu hören, Sheila hätte Richtung Seattle Leine gezogen. So kam es dann, dass einer von Mitsuhamas Johnson seinen Anruf durchs Netz jagte, um ein paar Runner zu organisieren, die sich in den Schatten von Seattle auskannten.

Ich entdeckte sie ziemlich rasch. Der Bilderschaltkreis in meinem rechten Auge bestätigte die ID. Problematisch war nur, dass sie noch von jemand anderem aufs Korn genommen wurde. Ich hielt ihn für einen Späher auf der Suche nach Frischfleisch. Vielleicht ein Lude, der seinen Stall erweitern wollte, vielleicht aber auch jemand, der Leute für hässlichere Sachen suchte. An manchen Stellen ist die Austauschrate ziemlich hoch, und die einzige Arbeitslosenunterstützung für die Arbeiter dort besteht aus Sterbegeld. Bei diesem Späher handelte es sich um einen dürren Kerl in langem Mantel, der seine Bahn durch die Menge zog und sich die Gesichter anschaute. Auf der Suche nach einem Produkt, das sich verkaufen ließ.

Er war dichter an dem Mädchen dran als ich. Trotzdem hätte ich schneller bei ihr sein können, wenn ich meine Reflexbooster reingeknallt hätte. Wenn man allerdings mit 7O Sachen durch eine Menge in Downtown Seattle pflügt, kann es leicht passieren, dass einem unpassende Aufmerksamkeit von Seiten Lone Stars zuteil wird. Also war ich immer noch ein paar Dutzend Meter weit weg, als der Späher auf Sheila zutrat.

Macht ein Späher sich an Frischfleisch ran, besteht die übliche Masche darin, das Opfer zuzuquatschen und vielleicht eine hilfreiche Hand nach dem Koffer auszustrecken, nur so aus Freundlichkeit, wenn ihr mich richtig versteht. Dieser Typ hier machte alles ganz anders. Er hielt Sheila einen dürren Finger vors Gesicht und zog damit irgendein komisches Muster nach. Ihre großen blauen Augen wurden ganz leer, und sie erstarrte. Auch ich erstarrte für eine Sekunde und hoffte, dass da nicht das passierte, was ich befürchtete. Das Mädchen stand reglos da, während er ihre Reisetasche packte. Ich hatte ein blödes Gefühl, was diesen trickreichen Finger anging. Drek! Ich hasse es, mich mit einem Zauberer rumzuschlagen.

Er stand mit dem Rücken zu mir, so ziemlich das einzige, was mir an der ganzen beschissenen Situation gefiel. Ich knallte meine Nervenbahnen auf Touren - nicht sehr stark, gerade ausreichend, um den Abstand zu überbrücken, ehe der Zauberer sich umdrehen konnte. Ich packte seinen Hals mit einer Hand und die Tasche des Mädchens mit der anderen und schleuderte ihn davon, die praktische Anwendung eines engen kokyunage-Wurfes. Wenn mans richtig macht, erkennt niemand, dass man irgendwas damit zu tun hat, wie der Typ dort auf den Boden knallt - und zwar heftig.

Der Sturz raubte ihm den Atem. Darauf hatte ich gezählt. Das Mädchen blinzelte und ließ wieder einen Anflug von Interesse an ihrer Umgebung erkennen. Darauf hatte ich gehofft. Dem Späher war seine Konzentration flöten und damit sein Zauberspruch durch die Lappen gegangen. Ich schaltete auf meine "Konzern"-Stimme um, die ich für Lone-Star-Cops und Konzem-Johnsons reserviert hatte: "Miss, hier ist es zu gefährlich! Wenn Sie bitte mitkommen möchten, begleite ich Sie gerne in eine Gegend, wo es sicherer ist." Aber Drek, sie glotzte mich nur leer an und machte dann dasselbe mit dem kleinen Penner, der vor uns auf dem Boden lag.

Dessen Mantel war an einigen Stellen ganz steif, Hinweise auf die Panzerung. Ich trug auch so einen, nur sauberer. Unter dem Mantel hatte er ein T-Shirt an, das aus irgendeinem kurzen grauen Fell bestand. Vorne war Schmuck dran befestigt - Fetische nennen die Zauberer so was. Die hübscheren Teile sahen aus wie plattgefahrene Vögel. Seinem Sinn fürs Modische nach zu urteilen, war ich auf so ‘ne Art Schamane gestoßen, wahrscheinlich einen von der Rattenfakultät. Der glasige Ausdruck verschwand jetzt wieder aus seinen Augen, die sich allmählich auf mich richteten. Gefiel mir nicht sonderlich. Ein Zauberer kann alles verhexen, was er sieht, und dieser Rattenfritze konnte mich echt gut sehen.

Ich überlegte mir, ob ich subtil sein sollte, aber dann zupfte sich der Hexer einen seiner Fetische vom Hemd und zeigte damit auf mich. Ich entschied, dass jetzt nicht die richtige Zeit für Subtilitäten war, und trat ihm in die Eier. Was er auch hatte zaubern wollen, es schien nicht zu klappen, also schätzte ich, dass ich ihn wieder mal in seiner Konzentration gestört hatte.

Die direkte Vorgehensweise schien echt gut zu funktionieren, also packte ich Sheila am Handgelenk. "Zur Hölle!" knurrte ich. "Komm mit!" Sie fühlte sich entweder noch schummerig von dem Zauberspruch oder hatte einen Anfall von gesundem Menschenverstand, denn sie kam brav und ruhig mit, als ich den nächst besten Ausgang ansteuerte. Das war auch gut so. Hätte ich sie getragen, hätte das nur Gerede gegeben.

Die ganze Geschichte hatte vielleicht 15 Sekunden gedauert. Inzwischen merkten die ersten Leute in der Umgebung des Schamanen, dass da jemand an einem akuten Anfall von irgendwas litt. Mit der Zungenspitze drückte ich einen Kontakt im unteren linken Backenzahn. Ich hatte das Telefon auf eine bestimmte Nummer vorprogrammiert. Der in der Brustwarze implantierte Empfänger vermittelte den Eindruck, Neddy stünde direkt neben mir.

Ich hatte eine Sprechmuschel in den Adamsapfel eingebaut, also murmelte ich Neddy zu, was ich zu sagen hatte, während ich mich mit Sheila im Schlepptau durch die Menschenmassen schlängelte. "Ich hab das Mädchen an der King Street gefunden, aber es gibt vielleicht ein Problem."

"Was für Schwierigkeiten erlebst du konkret, mein namenloser Freund?" Neddy redet immer, als würde er sich darum bewerben, der nächste Mr. Wörterbuch in WordWatch zu werden.

"Ein Späher hat sie sich aufs Korn genommen, so ein Straßen-Schamane, der versucht hat, ihr eins zu verpassen."

"Verpassen? Das ist nun wirklich keine Hilfe. Was für einen Spruch hat er eingesetzt?"

"Drek, Neddy! Woher zum Teufel soll ich das denn wissen? Du kommst besser mit den anderen rüber. Ich bin unterwegs zur Jackson ..." Ich wurde unterbrochen, als wir den Bahnhof verließen und auf die Jackson Street kamen.

Sah ganz so aus, als ob unser Späher seine Hilfstruppen dabei hatte. Der links von mir ging geräuschvoll zu Werke. Von mir wurde erwartet, mich ihm zuzuwenden, womit sein Kumpel freie Bahn gehabt hätte, mich von hinten zu erledigen. Ich drehte mich, um dem Angriff von links zu begegnen und schob dabei das Mädchen aus der unmittelbaren Gefahrenzone. ln diesem Augenblick vernahmen meine Ares-Wiremaster-Gehörverstärker das leichte Scharren von Plastikschuhen auf dem Gehsteig. Ich hatte schon beinahe meinen Maultiertritt angesetzt, um den Typ hinter mir zu treffen, aber dessen Angriff erfolgte so verdammt schnell, dass ich Glück hatte, mit heiler Wirbelsäule davonzukommen.

Ich nutzte die Wucht des Schlages, um mich wegzurollen und einen Blick auf den zu erhaschen, der meine Aufmerksamkeit zu gewinnen suchte. Es war ein Ork mit Nervenkontaktpads an den Händen, wie man sie für billige Smartgunverbindungen benutzt, die nicht aus einem Hautschaltkreis bestehen. Seine Bewegungen wirkten irgendwie zeitlupenartig, woraus ich entnehmen konnte, dass seine Flexbooster, wenn er überhaupt welche hatte, langsamer waren als meine. Sein Partner - der schnelle - war eine Menschenfrau, an der keine äußeren Zeichen von Cyberware zu erkennen waren, die aber mit mir Schritt hielt und dabei eine elegante Schnelligkeit an den Tag legte, wie sie für mich nicht alarmierender hätte sein können. Entweder hatte sie erstklassige Bodymodifikationen, oder sie war eine Adeptin, also jemand, der mit Hilfe von Magie Stunts durchzieht, für die wir anderen Cyberware brauchen.

Wir umschlichen einander und versuchten, uns ¡n Position zu bringen. Selbst ohne Knallerei war ein Samuraitrio, das in diesem Stadtteil Ringelreihen spielte, etwas, das Lone Star und vielleicht auch die Renraku-Sicherheit auf den Plan rufen würde, also wollten wir alle schnell zum Ende kommen. So ein Zeitlimit bringt immer die Gefahr mit sich, dass man die Sache verpfuscht, und der Ork griff als erster in die Kacke. Er täuschte einen weit ausgeholten Tritt an und stürmte dann auf mich los, während ich zurückwich. Nur war auch mein Rückzug eine Finte, und ich empfing ihn mit einer Faust-Knie-Ellbogen-Kombination, die ihn zu Boden warf, wo er sich kräftig auskotzte.

Ich fand nicht die Zeit, ihm noch eine zu verpassen, denn jetzt attackierte mich seine Partnerin. Ich legte den Rückwärtsgang ein, um ihren wirbelnden Händen zu entgehen, und ihre rasend schnellen Angriffskombinationen zwangen mich zu wilden Paraden. Dann ging ich zum Gegenangriff über, aber die Adeptin entzog sich mir durch einen Rückwärtssalto. Das gab mir zu denken. Für so ein Ausweichmanöver war mein Angriff nun wirklich nicht bedrohlich genug gewesen. Als Sheila gellend aufschrie, wirbelte ich herum und verzichtete erst mal darauf, mich weiter um die Adeptin zu kümmern, denn der Rattenschamane stand etwa zehn Meter von mir entfernt - einen Fetisch in der Hand und einen hässlichen Ausdruck auf dem Gesicht. Ich riss meine Browning MaxPower heraus, aber es war mir unmöglich, einen Schuss abzugeben, ehe er seinen Zauberspruch einsetzte.

Er kreischte ein paar Worte, und, bei Ghost, seine Augen blitzten rot unter den Straßenlaternen auf, als ein blendender Lichtblitz direkt in mein Gesicht knallte. Meine Blitzkompensatoren in der Hornhaut wurden überlastet und setzten aus. Ich war geblendet. Ich überlegte mir schon, dass ich jetzt einen alten Streit mit Neddy über das Leben nach dem Tode beilegen konnte, musste aber ziemlich überrascht feststellen, wie die Knarre in meiner Hand bockte, als ich das halbe Magazin in die Richtung entleerte, in die ich vorher geschaut hatte. Dann wartete ich darauf, dass mein Körper Schmerz oder Verbrennungen meldete, irgend was.

Statt dessen klärte sich meine Sicht wieder und zeigte mir, dass die Reste des Schamanen über den ganzen Bürgersteig verteilt waren. Hinter mir ertönte eine Stimme, deren schleppender Akzent mir vertraut war: "Mal wieder Explosivgeschosse geladen, wie ich sehe. Eines Tages, Namenloser, solltest du es wirklich mit einem subtileren Ansatz versuchen."

Ich hörte Sirenen näher kommen, ebenso wie Neddy, aber wenn er unbedingt klugscheißen will, kann er nicht anders - er muss es loswerden. "Ich habs ja versucht, Neddy. Es hat nicht besonders gut funktioniert, okay? Können wir uns jetzt in deinen Unterschlupf verdrücken?"

Zauberer - Mann o Mann!

Unterschlupf in den Redmond Barrens

Sheila Winder betrachtete verwirrt meine Visitenkarte, die mich als Nathaniel Edward Fortescue auswies, Doktor der Thaumaturgie. Vielleicht fand sie, dass dieser Hauch von Urbanität mit der Umgebung kontrastierte. Mein Wohnsitz, den Namenlos bedauerlicherweise einen "Unterschlupf" nennt, befindet sich im Randbereich der Redmond Barrens. Wenn man in einer Städtischen Kriegszone die Nachbarn belästigt, dann schießen sie nach meiner Erfahrung zuerst und stellen später Fragen; mischt man sich dagegen nicht in ihre Angelegenheiten, dann respektieren sie auch die Privatsphäre des anderen. Zugegeben, ein regelmäßiger Obolus an die örtlichen Gangbosse trägt dazu bei, einen ruhigen Lebensstil zu pflegen. Ebenso der Ruf, diejenigen, die einen stören, kurz und bündig abzufertigen.

Für jemanden, der in der sterilen Welt einer Konzernenklave für die Managerklasse aufgewachsen war, hatte Ms. Winder gerade eben eine ziemlich gründliche Einführung in das Leben im Asphaltdschungel erhalten. lm Verlauf ihrer ersten fünf Minuten in Seattle hatte ein Rattenschamane die Herrschaft über ihre Gedanken übernommen, hatte sie aus unmittelbarer Nähe einem Kampf zwischen drei Straßensamurai zugesehen und ihre Erfahrungen dann gekrönt, indem sie miterlebte, wie Namenlos den Schamanen zu Hackfleisch verarbeitete.

Ihre Gelassenheit wurde auch weiterhin auf die Probe gestellt. Wie sie da in meinem Salon saß, musste sie feststellen, dass ein typisches gemischtes Team von Schattenleuten sie einer kritischen Musterung unterzog. Sie hatte sich einigermaßen an Namenlos und mich gewöhnt, beide relativ normal wirkende Vertreter der Menschheit. Die beiden übrigen Teammitglieder passten jedoch kaum in den Konzernstandard. Die einzigen Metamenschen, die Sheila in ihrer heimatlichen Umgebung zu Gesicht bekommen hatte, waren lediglich ein paar Ausstellungselfen und -zwerge gewesen und hin und wieder der Quoten-Ork, durch kosmetische Chirurgie dermaßen zurechtgestutzt, dass sein Anblick den empfindsamen Geschmack der Nachbarn nicht verletzte. Anscheinend war es eine offene Frage, ob Iris sie mehr faszinierte oder Smedley.

Iris ist eine Elfin, und ich gestehe freimütig, dass sie eine der schönsten Frauen ist, die ich je gesehen habe, egal von welcher Rasse. Der populäre Kulturbetrieb stellt die Elfen als poetische und romantische Gestalten dar, und bei den Kindern von Ms. Winders Generation trifft man auf ein Element offener Vergötterung ihnen gegenüber. Die Tatsache, dass Iris einen sackartigen, fett verschmierten Overall trug und sich das silberne Haar an einer Schläfe abrasiert hatte, um Platz für einen Satz Riggerbuchsen zu schaffen, schien die Vorstellungen des Windergirls von elfischen Ladies zu beleidigen.

Smedley andererseits ist ein Troll. Man könnte ihn glatt als Anderthalbtroll bezeichnen, da er bis auf ein Haar an drei Meter herankommt und die Waage mit 280 Kilogramm aus dem Konzept bringt. Was seinen Körper bedeckt, ist eine Masse aus gehärteter Haut, aus Narben und den Knötchen - gewöhnlich fälschlicherweise als Warzen bezeichnet -, die für seine Rasse so typisch sind.

Trotz der fortlaufend verabreichten Kulturschocks erwies sich Ms. Winder als unverwüstliche junge Dame und erholte sich gut von der Aufregung des frühen Abends. Tatsächlich war sie sogar ¡n besserer Verfassung als Namenlos. Obwohl ich ihn vor den gröbsten Auswirkungen des letzten Spruchs des Schamanen abgeschirmt hatte, blieben ihm doch etliche kleine Wunden aus dem Duell mit dem weiblichen Samurai. Sobald wir im Lieferwagen und sicher auf dem Weg über den Lake Washington gewesen waren, hatte ich meine Wahrnehmung in den Astralraum ausgedehnt und die Wunden untersucht, ehe ich sie heilte. Die Spuren waren schwach, aber für den geübten Betrachter doch zu erkennen. Die Hände seiner Gegnerin waren mit tödlicher Energie aufgeladen gewesen, entweder das Ergebnis eines Zaubers oder auch Ausfluss der einem Adepten eigenen Macht. Egal, so oder so handelte es sich bei dieser Frau um eine formidable Gegnerin - zu formidabel für diese Gelegenheit.

"... und das stellt uns vor ein faszinierendes Rätsel. Wenn wir die Anwesenheit eines Schamanen und einer Adeptin in Betracht ziehen und dann noch den Samurai berücksichtigen, der für einen weniger fähigen Gegner als Namenlos ziemlich tödlich gewesen wäre, so passt das alles nicht zusammen. Die Erträge aus Späherjobs, bei denen aufs Geratewohl obdachlose Kinder aufgesammelt werden, sind einfach zu niedrig für Leute dieses Kalibers. Wir müssen uns also die Frage stellen, warum sich diese hoch bezahlten Talente aus der Menge aussortiert haben und dann auch noch angesichts entschlossenen Widerstandes beharrlich dran geblieben sind - bis zum Tod sogar. Wer verlangt so sehr nach Ihnen, Sheila Winder?"

Ihr Ausdruck blieb gelassen. "Meine Eltern ...?"

"Ich muss dich darüber informieren, dass wir von deinen Eltern oder deren Agenten beauftragt wurden, dich einzusammeln und nach San Francisco zurück zu verfrachten."

Sie erzeugte einen Laut, der irgendwo zwischen Ächzen und Wimmern lag. Ihr war noch gar nicht in den Sinn gekommen, dass unser Interesse an ihrer Misere andere Gründe als reine Menschenfreundlichkeit haben könnte. "Sehen Sie, Mr ... ah, Fortescue, ich bin ja dankbar für lhre Hilfe und all das, aber ich will nicht zurück zu meiner Familie und in ihr beschissenes Condo, nicht ..."

"Ach ja, die unschuldige Heftigkeit der Jugend", gluckste ich und unterbrach sie damit.
"Egal wie man es ausdrückt, sie bleibt doch ein Fixpunkt in einem wandelbaren Universum. Plus ça change, plus cest la meme chose."
Sie blickte mich verständnislos an, und ich übersetzte: "Je mehr sich verändert, desto mehr bleibt sich gleich."

"Aber ich bin über achtzehn! Sie können mich nicht zwingen, wieder nach Hause zu kommen!"

"Zweifellos ist das einer der Gründe, warum sie Privatpersonen unter Vertrag genommen haben, anstatt sie von Lone Star ergreifen zu lassen, wo man möglicherweise ihre Rechte respektiert hätte - schließlich soll es noch Wunder geben. Aber wir schweifen ab. Von wem könnte man sonst noch erwarten, dass er eine bedeutsame Geldsumme ausgibt, um sie in seine Gewalt zu bekommen, Ms. Winder?"

Sie wandte unbehaglich den Blick ab. "Ich wüsste niemanden."

Ich seufzte. Sagte sie nun die Wahrheit? Wollte ich das Risiko eingehen, ihre unbewiesene Behauptung zu glauben? In der Welt der Schatten gab es darauf nur eine Antwort. Ich streckte die Hand aus und berührte Sheilas Stirn. Bevor sie reagieren konnte, flüsterte ich einige Worte und drang in ihr Bewusstsein ein. Sie focht mit ihrer Willenskraft gegen den Eingriff, aber obwohl sie stark war, war sie doch nur eine Normalsterbliche. Ich erkannte, was es bedeutete, Sheila Winder zu sein. Ich war jetzt Sheila Winder.

In der Matrix

Ich öffne die untere Schublade meiner Frisierkommode und hole den schlanken Kasten hervor, bei dem es sich um mein Cyberdeck handelt. Für einen Moment habe ich das Gefühl, ich müsste überrascht sein, dass es ein Fuchi Cyber-6 ist. Dann fällt mir wieder ein, in was für einen Schlamassel man geraten kann, wenn man mit Spielsachen für zehn Nuyen in der Matrix rumpfuscht, und wie ich darum einen kleinen Kredit hier und einen kleinen Kredit dort aufgenommen habe, bis genug da war, um Skimmer zu bezahlen und einen richtigen Kasten zu kriegen. Hier, direkt in meinen Händen. Alles klar für einen echten Run.

Ich ziehe das Verbindungskabel heraus und stecke es in die Datenbuchse in meiner Schläfe. Atme tief. Fahre ab. Die Wände meines hübschen Rüschenschlafzimmers-Standard-Version für junge Mädchen in der San Furanshisuko Enklave von Mitsuhama, Komplex Kantoku-3 - zerfallen in unzählige glitzernde Staubkörnchen, aus deren wirbelndem Chaos sich das Neonuniversum der Matrix bildet.

Ich war schon ein Dutzend Mal hier, aber jetzt wird mir für einen Moment schlecht, als ob irgendwas schrecklich schiefgegangen wäre. Es geht vorüber. Es ist nie wirklich passiert, nicht wahr?

Ich kenne den Weg, den ich nehmen möchte. Ich habe mir die Anlage des Systems schon hundertmal auf Daddys gesichertem Terminal angeschaut. Eine Kristallschlange, die Silicon Sidewinder, gleitet durch die Datenleitungen und vermengt sich mit den pulsierenden Informationsströmen. Alle Konflikte sind gelöst. Ich bin Sheila, und ich bin die Schlange, und ich bin auf der Jagd.

Ich gleite durch das Majordomo-2045-System des Apartments, zeige der tiefrot leuchtenden Kammerherr-Gestalt am SAN einen gefälschten Passcode und bin schon draußen im privaten LTG von Mitsuhama SanFran. Die SiliconSidewinder verwandelt sich in die Logiksonden einer Zufallskontrolle an der zentralen Schaltstelle. Ich suche die Schaltkreisblöcke ab, bis ich den Verschiebeblock für gesicherte Leitungen erreiche.

Meine Sonden vergraben sich in den leuchtenden Zugangskonstrukten, und plötzlich erhebt sich vor mir eine glänzende, nachtschwarze humanoide Gestalt. Ich zeige meine Wartungs-ID vor. Die Gestalt reißt mir die Logikverkleidung herunter, aber dann zuckt die Silicon Sidewinder vor und versenkt ihre digitalen Fänge im Wächter-Iceprogramm. Ich pumpe Angriffscodes in das Icon und verstopfe seine Subroutinen mit widersprüchlichen Befehlen, bis es abstürzt. Hat es vorher Alarm geschlagen? Ich weiß es nicht. Jetzt aber schnell!

Ich suche die reservierte Verbindung zur MCT/SF-Kreditunion. Ein paar Anpassungen an der richtigen Stelle, und schon ist mein leerer Credstab wieder ganz rund und glücklich. Ich finde eine Schaltung, die zu den Angaben zu passen scheint, und rutsche hinein.

Als ich feststelle, dass ich durch den Prioritäts-Übertragungsdispatcher einer Satellitenleitung sause, ist mir klar, dass dies hier kein Ortsgespräch mehr ist. Wo zum Teufel bin ich? Ich könnte mich jederzeit ausstöpseln und noch mal von vorne anfangen. Vorausgesetzt, dieses Ice, das ich erledigt habe, hat meine Spur nicht verfolgt. Drek, jeder Käufer eines Piratendecks bekommt einen Eimer Paranoia gratis dazu, und meiner wurde gerade angeliefert. Okay, Sidewinder. Cool bleiben, Mädchen. Weiter und rauf.

Für einen Moment kommt mir die Zeeeiiit sooo kooomiiisch vooor, als meine Reaktionszeit über die Satellitenleitung stolpert, dann finde ich mich in einem Datenspeicher wieder. Im leeren Cyberspace schwebt ein einsames Icon. Eine müde Datei in einem ganzen Datenspeicher. Sieht nach Zahldaten aus. Augenscheinlich kein Ice. Yeah, richtig.

Ich bastele ein Rahmenkonstrukt zusammen. Eine schimmernde goldene Aura materialisiert rings um die Silicon Sidewinder und gleitet dann vorn in Richtung auf die einsame, verlockende Datei. Eine Geisterschlange auf dem Weg ins Zentrum des Datenspeichers.

Da wirbelt auf einmal der Raum vor dem Köder und verfestigt sich zu einem schimmernden blauweißen Drachen. Er strahlt blendende Strahlungsimpulse ab, wie Schnellfeuerblitze. Das Feedback aus den Rahmensensoren ist für mich der Beweis, dass manche Deckerstories den Tatsachen entsprechen. Der Drache ist schwarzes IC. Wenn es sich die richtige Silicon Sidewinder vorknöpft, kann es mich töten. Wie es aussieht, macht es sich jedoch über die Codesegmente des Rahmenköders her.

Ich empfinde einen verrückten Kitzel, Widerhall des Adrenalins, das durch meinen Körper da unten in San Francisco schießt, als ich an den miteinander verschlungenen Icons von Rahmen und Ice vorbeihusche und die einsame Datei aufs Korn nehme. Die Fänge der Sidewinder verbeißen sich in den Dateimassen, und ich fange an, Daten in mein Cyberdeck zu laden. Ich fahre das Fuchi auf volle Touren und ziehe die Informationen so schnell aus der Matrix, wie es die Bandbreite nur zulässt.

Mein Rahmenprogramm stürzt ab. Seine Sensoren verschwinden unter einer Explosion von Killerbefehlen des Blitzdrachen-Ice aus meinem Bewusstsein. Ich fluche neben der Datei, und meine Finger zu Hause tasten nach der Datenbuchse, um die Verbindung zu unterbrechen, die mich in der Matrix hält. Nur noch eine Sekunde, dann stöpsele ich mich aus, nur noch eine einzige Sek... die Dateiendmarke rast durch die Komleitung und schließt den Vorgang des Herunterladens ab. Meine leiblichen Finger schließen sich um den Steckerin der Datenbuchse. Und Blitze zucken durch meine Nerven als das IC angreift.

Meine Programme in der Matrix zeigen unter den Befehlsstrukturen, die wie Blitze aus dem Drachen schießen und in der Silicon Sidewinder einschlagen, erste Ausfallerscheinungen. Unten in San Francisco schweben meine Finger zuckend in der Luft, nur Millimeter davon entfernt, die Verbindung zu unterbrechen.

Der Blitzdrache reißt ein Stück aus der Silicon Sidewinder. Blut tropft mir aus der Nase, als der Blutdruck unter den mörderischen Biofeedbackinstruktionen hochschießt. Die das Cyberdeck überfluten und sein ASIST-Interface in eine Maschine verwandeln, die darauf programmiert ist, mich zu töten.

Ich starte ein Killerprogramm, und die Fänge der Sidewinder greifen nach dem Blitzdrachen. Das IC verändert seine Kennung, um dem Angriff auszuweichen, und wieder durchzuckt mich ein Schmerz. Ich werfe mich in Panik hin und her, und die Schuppen fliegen von meinem sich auflösenden Körper in die endlose Leere des Cyberspace davon. Kämpfe! Flüchte! Beiß zu! Ausstöpselnausstöpselnausstöpselnausstöpseln ...

Probleme mit MCT

Ich lag auf dem Boden und spürte ein dumpfes Pochen im Schädel. Die Erinnerung an einen anderen Schmerz hallte noch in meinen Nerven nach. Auf der anderen Seite des Zimmers und innerhalb meines Kopfes hörte ich Sheila Winder unkontrolliert schluchzen. Ein schwieliger Daumen zog mir ein Augenlid hoch, und die Deckenbeleuchtung fuhr ins Auge wie die Blitze, die der Ice-Drache in meine ... äh ... in Sheilas Matrixpersona hineingefeuert hatte.

Ich erzeugte einen unartikulierten Laut, der offensichtlich meinen sehnlichsten Wunsch verständlich machte, denn der Daumen wurde entfernt. Ich hörte Namenlos sagen: "Er hat sie bald wieder alle beisammen."

Iris sagte etwas im melodiösen Tonfall des Sperethiel, der so genannten Elfensprache. Ich verstand ein paar der bekannteren Flüche. Gegen Ende schaltete sie allerdings wieder auf Englisch um. "Ich hoffe, er fühlt sich wenigstens halb so beschissen wie dieses arme Kind. Was zum Teufel hat dieser dreckfressende Abfallmagier eigentlich mit ihr gemacht?" Ach, nun ja, Iris Sprache hat noch nie so ganz zum stereotypen Bild der Elfenmaid gepasst.

Ich entschied, dass ich genügend bei Bewusstsein sein musste, um Sprachmuster zu analysieren. Wahrscheinlich konnte ich mich sogar aufsetzen - oder vielleicht nicht? Komm, Fortescue! Laudace, encore de laudace, toujours delaudace. Ich setzte mich auf. Zu spät erinnerte ich mich an das Schicksal Dantons, der den Wagemut so gepriesen hatte. Um die Wahrheit zu sagen, erschien mir die Guillotine im Vergleich reizvoller. Meine Kopfschmerzen schwollen zu einem Sturzbach aus brodelnder Säure an, die meinen Schädel auskochte, ehe sie sich beruhigte und zu einem erträglichen Lavasee wurde.

Die nächsten paar Minuten wurden von einer Flut chaotischer Eindrücke bestimmt. Iris versuchte, das hysterische Windergirl zu beruhigen, während Namenlos und Smedley Schmerztabletten für mich holten. Endlich waren alle Beteiligten wieder in einem Zustand, den man als normal betrachten konnte. Ich wandte mich an Sheila, die meinen Blick trotzig erwiderte.

"Haben sie rausgefunden, was sie gesucht haben, sie verdammter Hirnschänder?", fauchte sie.

Ich holte tief Luft. "Sie wissen, was ich erfahren habe. Sie sind eine Deckerin, Sheila. Vielleicht mit noch wenig Erfahrung, aber talentiert und schnell. Sie sind durch puren Zufall auf eine Hochsicherheitsdatenbank im zentralen Mitsuhama-System gestoßen und haben eine Datei geladen, die so heiß war, dass Mitsuhama sie durch schwarzes Eis geschützt hatte. Und wir beide wissen, was sie enthielt und wieso Leute bereit waren, dafür zu töten. Möchten sie es ihnen sagen, oder soll ich es tun?"

Sie hielt meinem Blick noch eine weitere Sekunde stand, musste dann aber aufgeben. Mit leiser Stimme antwortete sie: "Es handelt sich um den Generalalgorithmus für die System-Passcodes aller Mitsuhama-Großrechner."

Namenlos unterbrach als erster das Schweigen. "Ich hasse es, klein Doofie zu spielen, aber wieso zum Teufel ist dieser Algorithmus so heiß?"

Smedley erklärte es ihm: "Wie er Name schon sacht, isser Generalschlüssel für alle Passcodes, die MCT am Laufen hat. Und wennste den Meisteralgorithmus hast, kannste dir alle Algorithmen ausrechnen, die se auf ihren Systemen nur laufen haben. MCT kann sich dann nur noch vor dir schützen, wenn se ‘nen neuen Algorithmus basteln und alle Programme, die se inner Matrix ham, damit neu compilen."

Iris Glockenstimme fiel ein. "Es ist nur eine Schätzung, aber für so einen Job braucht MCT eine Woche bis zehn Tage. Sie müssen den neuen Algorithmus entwickeln und testen und anschließend installieren. Sie müssen dabei auf Nummer sicher gehen, wenn sie den neuen Code nicht auch wieder gefährden und dort enden wollen, wo sie jetzt stehen." Sie wandte sich dem Mädchen zu, das neben ihr auf dem Sofa saß. "Wann hast du den Klau durchgezogen, Sheila?"

Das Mädchen und ich antworteten unisono: "Vor drei Tagen." Ich handelte mir damit einen finsteren Blick von Iris ein, als wollte sie wissen, seit wann ich Sheila hieß. Ich rieb mir die Schläfen. Tiefgehende Gedankensonden können einen echt durcheinander bringen.

Sheila fuhr fort: "Mir war eins klar - wenn irgendwelches IC mich identifiziert oder mich gar bis in das Apartment meiner Familie verfolgt hatte, dann würden die Konbullen echt schnell aufkreuzen. Also bin ich zur Tür raus, sobald ich wieder aufstehen konnte. Ich dachte mir ... na ja, Seattle soll der ideale Markt für heiße Daten sein. Ich tauschte meinen Konzem-Credstab gegen genug Lappen ein, um mir eine Busfahrkarte zu kaufen, und den Rest kennt ihr ja." Sie schien wieder kurz vor einem Tränenausbruch zu stehen. Iris legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter.

"Nach dem Empfangskomitee zu urteilen, das am Busbahnhof auf dich gewartet hat, können wir davon ausgehen, dass Mitsuhama weiß, wer die Daten hat", meinte Iris. "Die Verwundbarkeit ihres Systems ist jetzt auf dem Gipfelpunkt, und sie nimmt allmählich wieder ab, während sie die neuen Sicherheitssysteme durch die Matrix schieben. Nächste Woche um diese Zeit geben sie nur noch einen Scheiß darauf, wer Sheilas Daten in die Hand bekommt. Bis dahin werden sie jedoch Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um an das Zeug zu kommen - und an sie."

Ich stand schwankend auf, ging zu Sheilas Reisetasche, die sorglos in eine Ecke geworfen worden war, öffnete den Reißverschluss, griff hinein und zog das schmale Cyberdeck hervor.

"Darin ist die einzige Version der Datei enthalten", sagte ich. Es war keine Frage. "Daten, die wertvoll genug sind, um uns entweder reich zu machen oder unseren Abgang herbeizuführen. Vielleicht beides. Sie sind der Schlüssel zu deinem Leben und deiner Freiheit, kleine Lady. Ich glaube, ich sehe da eine Lösung für unser beider Dilemma, aber sie hängt von dir ab, Sheila."
Das Mädchen - nein, sie hatte die Kindheit während der zurückliegenden drei Tage hinter sich gebracht - die Frau streckte die Hand aus und fuhr mit den Fingern über die glatte Plastikoberfläche des Decks. Unsere Hände berührten sich kurz. Meine blieb ruhig - ihre ebenfalls. Sie lächelte.

"Welchen Schwindel ziehen wir jetzt durch, Neddy?"

Der Kampf

Ich ging am Ufer entlang, während die Morgensonne den bedeckten Himmel über Seattle in helles Grau verwandelte. Das neblige Licht erinnerte mich an zu Hause, und ich stellte überrascht fest, dass ich einen Kloß im Hals hatte. Reiß dich zusammen, Sheila - du bist jetzt ein großer böser Shadowrunner! Oder wenigstens könntest du es werden, wenn du die nächsten paar Stunden überlebst.

Neddy hatte Mr. Johnson angerufen und ihm gemeldet, dass er und seine Gruppe die arme kleine Ausreißerin gefunden hätten. Er wies auch darauf hin, dass er mehr als nur ein bisschen sauer über den Aufruhr an der King Street gestern Abend war. Mr. Johnson behauptete, er wüsste nichts davon.

Jedenfalls sah der Deal vor, dass ich um 7 Uhr im Strandpark warten sollte, wo die MCT-Sicherheit mich abholen konnte. Danach würde Mr. Johnson die Bezahlung der Shadowrunner arrangieren, das übliche Verfahren.

Nach Neddys Worten hatte ich meinen Fehler eingesehen und wollte nur noch nach Hause. Während Neddy mit Mr. Johnson im Trid seine Masche abzog, rechnete ich die ganze Zeit damit, die Klänge von "Somewhere Over the Rainbow" zu hören. Als ich das den anderen anschließend sagte, schauten sie mich nur verständnislos an, abgesehen von Smedley, der sich auf dem Boden wälzte, vor Lachen brüllte und dabei minutenlang immer wieder schrie: "Es geht doch nix über Zuhause!"

Alle behaupteten, sie wüssten überhaupt nichts von Datendiebstählen oder Konzemkillern oder Passcode-Algorithmen.

Um 0650 fuhr Iris Lieferwagen den Alaskan Way hinauf und hielt an der Pike Street. Da es kurz nach Sonnenaufgang an einem Sonntagmorgen war, gab es kaum Verkehr. Ich stieg aus, und der Lieferwagen fuhr weiter die Pike hinauf. Ich betrat den Park und ging zum Deich. Und wartete.

Um 0700 kam ein kastenförmiges, kleines Auto, ein Allegra oder Americar, also etwas total Unauffälliges, den Alaskan Way herauf und hielt. Drei Personen in Mitsuhama-Uniformen stiegen aus. Zwei kannte ich nicht. Die dritte, die mit den Offiziers - Epauletten, war die Frau, die vor dem Busbahnhof gegen Namenlos gekämpft hatte.

Okay. Yeah, ich bekam allmählich wirklich Angst. Ich meine damit, noch mehr, als ich ohnehin hatte. Die Frau war so schnell, und als sie Namenlos getroffen hatte, waren ihre Finger einfach durch Kleidung und Haut und sogar Panzerung gedrungen. Ich trug überhaupt keine Panzerung und stellte mir unwillkürlich vor, was ihre Hände mit mir machen würden.

Sie kamen auf mich zu. Ich wartete, bis sie auf 2O Meter heran waren, holte dann das Fuchi unter meinem Mantel hervor und hielt es so, dass sie es sehen konnten. Sie blieben stehen.

"Das ist es, was Sie wirklich haben wollen", sagte ich. "Nicht mich, nur die Datei. Können Sie es nicht einfach nehmen und mich in Ruhe lassen? Ich könnte es auch kaputtmachen, ins Wasser werfen, gleich hier, und dann ist es für Sie kein Problem mehr."

Die Frau antwortete: "Sheila, wir möchten auch nicht, dass du Schwierigkeiten hast. Du bist clever - du weißt, wie das ist. Wir müssen dir ein paar Fragen stellen, nur um sicherzugehen, dass niemand sonst eine Kopie der Datei bekommen hat. Wirklich, Honey, niemand ist böse auf dich. Wieso auch, die Firma braucht schließlich Computerzauberer wie dich. Komm einfach mit, dann nehmen wir deine Aussage zu Protokoll, und dann . . . na ja, Sheila, deine Eltern machen sich Sorgen. Sie vermissen ihre Tochter. Ich verspreche dir, Honey, dich persönlich zu ihnen zurückzubringen."

Verdammt! Obwohl ich sie längst durchschaute, kamen mir glatt die Tränen, als sie das sagte. Iris hatte mich gestern Abend vorgewarnt. Ich wollte nicht auf sie hören, aber sie zwang mich. Wir drangen mit Hilfe des Passcode-Algorithmus in die Sicherheitscomputer in San Francisco ein. Mit diesen Codes konnte ich die härtesten Dateien knacken, die sie überhaupt hatten, selbst die mit Code Rot. Selbst die mit dem Eintrag, dass meine Eltern vor zwei Tagen beim Verhör gestorben waren.

Zu wissen, was der verdammte Konzern getan hatte, und, ja, mein eigenes wütendes Schuldgefühl ebenfalls, machten den nächsten Schritt leichter. "Okay, Officer. Sie wollen das Deck? Hier ist es!" Ich drückte auf die Boottaste und warf es ihr zu, während ich mich gleichzeitig flach auf den Boden warf.

Sie war schnell. Sie durchschaute, was auf sie zukam, und sprang weg. Einer der beiden Männer stand nur da. Der andere streckte die Hände aus und fing das Deck auf. Er hatte sich ebenfalls ausgerechnet, was Sache war, und versuchte es zurückzuwerfen, auf mich, ins Wasser, ich weiß nicht.

Es explodierte in seinen Händen.

Ich hob den Kopf und sah den Sicherheitsoffizier, der das Deck gepackt hatte, im Gras liegen. Überall war Blut. Der andere Mann stand immer noch da und lächelte. Eine Art magischer Schirm flackerte um ihn herum, in Unruhe versetzt durch den Explosions-Druck, vor dem er ihn geschützt hatte. Die Frau hatte sich abgerollt und war wieder auf den Beinen. Sie hatte einen Kratzer an der Wange, aber schien weiter nicht verletzt zu sein.

Sie sah erst den Mann im Gras an und dann mich. Sie sagte kein Wort. Das brauchte sie auch nicht. Sie stürzte sich einfach auf mich, beinahe schneller, als ich sie überhaupt mit den Augen verfolgen konnte. Sie war vielleicht noch drei Schritte entfernt, als sich eine tropfnasse Gestalt über den Deich schwang und sie mit beiden Füssen traf. Sie flog ein halbes Dutzend Meter weit zurück.

Namenlos grinste sie an. "Okay, Chummer, wie wärs, wenn wir noch ein paar Runden absolvieren?"

Es sah so aus, als flackerte ihr Bild. In einem Augenblick lag sie noch am Boden, im anderen stand sie schon wieder. "Du bist längst über deine Zeit hinaus, Plastikmann", sagte sie.

Ich sah, wie der Lohnmagier mit dem Finger auf Namenlos zeigte. Schwarzes Feuer zuckte auf den Samurai zu, aber irgendetwas schien die Flammen ein paar Zentimeter vor ihm aufzusaugen. Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht des Magiers. Er blickte sich hektisch um, versuchte zu erkennen, von wo der Schutzzauber gekommen war.

Namenlos und die Adeptin lieferten nur noch verschwommene Eindrücke. Keiner von beiden machte auch nur den Versuch, eine Schusswaffe zu benutzen. Bestimmt irgend eine Ehrengeschichte, wie dieser Bushidoscheiß, mit dem sie uns in der Schule voll gestopft haben. Hätte ich eine Knarre in der Hand gehabt und die geringste Chance gesehen, die Adeptin zu treffen, hätte ich wie verrückt auf sie losgeballert.

Auf einmal wurde der Lohnmagier steif und machte irgendwelche Bewegungen mit den Händen. Die Augen waren geschlossen, als kämpfe er im Schlaf gegen irgendwas. Er pflückte sich etwas, was ich nicht sehen konnte, vom Revers und warf es weg. Eine Staubwolke explodierte mitten in der Luft, als hätte sich ein kleiner Gegenstand in Rauch aufgelöst. Eine Sekunde später platzte der Kopf des Magiers auseinander, und ich hörte ein Gewehr krachen.

Später erfuhr ich, dass Neddy so eine Art magisches Ding attackiert hatte, mit dessen Hilfe der Lohnmagier das Kraftfeld um seinen Körper aufrechterhielt. Hätte der Magier es nicht weggeworfen, sagt Neddy, dann hätte er einen Spruch durch den Fokus hindurch "zur Manifestation bringen können" . Andererseits wurde der Magier, als sein Kraftfeld zusammenbrach, durch Smedleys Präzisionsgewehr verwundbar. Ende der Geschichte.

Der Kampf zwischen Namenlos und der Adeptin stand auf des Messers Schneide, und beide bluteten inzwischen aus einigen bösen Wunden. Sie waren sogar so langsam geworden, dass ich ihren Bewegungen folgen konnte, die samt und sonders viel anspruchsvoller waren als alles, was ich bei den Konzernscouts je gelernt hatte, um das Selbstverteidigungsabzeichen zu erhalten.

Daher wusste ich auch nicht, wie der Trick hieß, den Namenlos dann einsetzte. Ich weiß nur, dass beide Kämpfer in einem Moment noch einander zu packen versuchten und die Adeptin im nächsten Moment am Boden lag, wobei sie den Kopf in einem Winkel hielt, den man seinem Genick erst abverlangen kann, wenn es gebrochen ist.

Namenlos betrachtete die Leiche ungefähr eine Minute lang. Dann kam er auf mich zu. Ich lag immer noch auf dem Boden. "Wie gehts dir, Winder?" fragte er. Ich wollte gerade sagen, dass alles prima wäre, da fand ich mich schon an seiner Schulter wieder, wo ich wie ein Säugling plärrte.

Wir verschwanden schleunigst aus der Gegend, ehe noch mehr Leute von Mitsuhama aufkreuzten. Die nächsten paar Tage versprechen ganz schön anstrengend zu werden. Iris sagt, sie würde mich einem Decker vorstellen, den sie kennt, und wir würden beide eine Menge Finanzdateien von Mitsuhama knacken, solange diese Passcodes noch gültig sind.

Um eins haben wir uns bereits gekümmert. Jeder Hinweis auf Sheila Winder, SIN 8452-523-09945, wurde aus den MCT-Datenbanken gelöscht. Das Konzernsystem hat bezüglich dieser SIN auch einen Rückruf an die nationalen Datenbanken abgesandt, also schätze ich, dass Sheila Winder tot ist. Sidewinder geht es jedoch prächtig, danke.

Innerhalb eines Tages haben sich alle Regeln verändert, die ich zu kennen glaubte. Trotzdem ist es nach wie vor dieselbe Welt und bin ich dieselbe Person. Vielleicht hat Neddy recht. Die kleinen Dinge ändern sich, aber was echt ist, bleibt für immer. Plus Ça Change? Keine Frage, was mich angeht!

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